Investoren-Paradoxon: Die steigende Gefahr eines Atomkrieges und wie Anleger damit umgehen sollten
Das renommierte Analyseinstitut BCA Research beziffert subjektiv betrachtet die Wahrscheinlichkeit eines zivilisationsbeendenden globalen Atomkriegs in den nächsten 12 Monaten auf unangenehm hohe 10 %. Die Märkte könnten in den nächsten Wochen angesichts dieses Szenarios ausflippen, ähnlich wie zu Beginn der Pandemie, heißt es dazu in einer Studie. Trotz des Risikos eines Atomkriegs ist es laut dem BCA-Strategen aber sinnvoll, in den nächsten 12 Monaten konstruktiv auf Aktien zu setzen. TraderFox berichtet und erklärt die Hintergründe.
Im Strafrechtssystem gibt es einen Grund, warum die Strafe für bewaffneten Raubüberfall niedriger ist als für Mord. Wäre die Strafe dieselbe, hätte ein bewaffneter Räuber einen perversen Anreiz, sein Opfer zu töten, um sein Verbrechen besser zu verbergen.
Dieselbe Logik gilt laut Peter Berezin, Globaler Chefstratege bei BCA Research, für die Geopolitik oder galt zumindest früher für sie: Man verhängt nicht von vornherein maximale Sanktionen, weil man dann nicht mehr in der Lage ist, den Gegner durch die Androhung weiterer Sanktionen zu beeinflussen.
Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine entschied sich der Westen, alle erdenklichen Arten von Sanktionen zu verhängen, mit Ausnahme derer, die den Westen viel kosten würden (wie z. B. der Abbruch der russischen Energieexporte).
Vor allem wurden viele russische Banken für das SWIFT-Nachrichtensystem gesperrt und die Devisenreserven der russischen Zentralbank eingefroren. Sogar die FIFA hat Russland von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen, nur wenige Wochen bevor es an der Qualifikationsrunde für die Fußballweltmeisterschaft 2022 teilnehmen sollte.
Zum jetzigen Zeitpunkt kann an der Sanktionsfront nicht mehr viel getan werden. Damit bleibt nur noch die militärische Intervention als einzige Möglichkeit, Russland weiter unter Druck zu setzen. Immer mehr westliche Experten, von denen einige die Ukraine vor zwei Wochen noch nicht einmal auf einer Landkarte hätten erkennen können, fordern laut Berezin einen Regimewechsel - diesmal in Moskau.
Wie man sich vorstellen kann, ist dies etwas, das Putin nicht gut gefällt. Letzte Woche erklärte er: "Egal, wer versucht, sich uns in den Weg zu stellen oder ... unser Land und unser Volk zu bedrohen, er muss wissen, dass Russland sofort reagieren wird, und die Konsequenzen werden so sein, wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie gesehen haben." Um sicherzustellen, dass es keine Unklarheiten darüber gab, wovon er sprach, versetzte er die russischen Nuklearstreitkräfte in einen "Sonderzustand der Kampfbereitschaft".
Ja, es ist möglich
Das Putin-Regime hat in der Vergangenheit bereits eine Art von Atomwaffen eingesetzt. Der russische Geheimdienst FSB hat wahrscheinlich den Giftanschlag auf Alexander Litwinenko mit Polonium-210 im Jahr 2006 inszeniert und Spuren der radioaktiven Substanz an Dutzenden von Orten in London hinterlassen. Die ehemalige US-Präsidentenberaterin und Putin-Biografin Fiona Hill sagte kürzlich in einem Interview mit Politico: "Jedes Mal, wenn man denkt: "Nein, das würde er nicht tun, oder?" Nun, ja, er würde."
Zugegeben, es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Abwurf von Polonium in eine Tasse Tee im Millennium Hotel in Mayfair und dem Abwurf einer 10-Megatonnen-Atombombe auf London oder eine andere westliche Großstadt. Wenn Putin jedoch das Gefühl hat, dass er keine Zukunft hat, könnte er versuchen, alle mit sich in den Abgrund zu reißen. Der Zusammenbruch des Rubels und der mit Sicherheit einschneidende Einbruch des Lebensstandards in ganz Russland könnten die interne Opposition gegen Putin schüren. Ein ruhiger Ruhestand kommt für ihn nicht in Frage.
Auf der Grundlage der letzten Wechselkurse ist das BIP Russlands kleiner als das Mexikos und kaum höher als das von Illinois, wie Berezin anhand der Grafik unten erklärt. Auch wenn die Verweigerung von Gaslieferungen an Europa eine sehr reale Bedrohung darstellt, so ist sie doch nur von begrenzter Dauer. Europa würde dann die Infrastruktur für die Verarbeitung von LNG-Importen aggressiv ausbauen.
Russlands Wirtschaftskraft ist geschwunden
In ein paar Jahren wird die einzige brauchbare Waffe, die Russland zur Verfügung steht, sein Atomwaffenarsenal sein. Wie der niederländische Historiker Jolle Demmers sagte: "Gerade der Niedergang und die Schrumpfung der russischen Macht, gepaart mit dem Besitz von Atomwaffen und einem gequälten repressiven Präsidenten, birgt große Risiken." Einige der bekanntesten strategischen Denker der Welt haben bereits vor der Invasion auf diese Risiken hingewiesen, jedoch ohne große Wirkung.
Die Mutter aller Risiken
In simulierten Kriegsspielen ist es im Allgemeinen schwierig, die Teilnehmer dazu zu bringen, die nukleare Schwelle zu überschreiten, aber wenn sie es tun, kommt es in der Regel zu einem ausgewachsenen nuklearen Schlagabtausch. Die Vorstellung eines "begrenzten" Atomkriegs ist eine Illusion, so Berezin.
Wie hoch sind die Chancen eines solchen Krieges? Berezin räumt dazu ein, dass seine eigene Meinung zu diesem Thema stark von seinen Schriften über existenzielle Risiken geprägt ist. Eine der dabei gewonnenen Erkenntnisse sei, dass das existenzielle Risiko wahrscheinlich stark unterschätzt werde, vor allem wenn man in die Zukunft blicke.
Obwohl jede Schätzung mit einer enormen Fehlerspanne behaftet ist, setzt er derzeit eine subjektiv unangenehm hohe Wahrscheinlichkeit von 10 % für einen die Zivilisation auslöschenden globalen Atomkrieg in den nächsten 12 Monaten an. Diese Wahrscheinlichkeit verleihe dem höchst umstrittenen Doomsday-Argument von Brandon Carter eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Ein Paradoxon für Investoren
Für Anleger stellt das existenzielle Risiko ein paradoxes Konzept dar. Wenn eine Interkontinentalrakete auf Sie zusteuert, würde die Frage, ob Sie Aktien über- oder untergewichten, ziemlich weit unten auf Ihrer Prioritätenliste stehen, erklärt Berezin.
Und selbst wenn man geneigt wäre, über das eigene Portfolio nachzudenken, wie würde man es in so einem Fall verändern? Denn bei einem ausgewachsenen globalen Atomkrieg würden die meisten Aktien auf null sinken, während die Regierungen wahrscheinlich gezwungen wären, ihre Schulden zu tilgen oder aufzublähen. Gold würde laut Berezin vielleicht einen gewissen Wert behalten - vorausgesetzt, Anleger behielten es in ihrem physischen Besitz - aber selbst dann dürften sie Schwierigkeiten haben, es gegen etwas Wertvolles einzutauschen, weil es nichts Wertvolles zu kaufen geben sollte. Das bedeutet, dass man aus rein finanzieller Sicht das existenzielle Risiko weitgehend ignorieren sollte, auch wenn es jedem aus persönlicher Sicht sehr am Herzen liegt.
Ein Moment des Ausrastens steht bevor
Der heutige Markt erinnert Berezin an Anfang 2020. Am 21. Februar jenes Jahres schrieb er in einem Bericht mit dem Titel "Markets Too Complacent About The Coronavirus", dass eine ausgewachsene Pandemie "weltweit zu 20 Millionen Todesfällen führen könnte" und dass "dies wahrscheinlich einen globalen Abschwung auslösen würde, der so tief wäre wie die Große Rezession von 2008/09, wobei der einzige Trost darin bestünde, dass die Erholung viel schneller erfolgen würde als die nach der Finanzkrise."
Viele hätten diesen Bericht für alarmistisch gehalten, ebenso wie die anschließende Entscheidung für leichtfertig hielten, Aktien im März 2020 hochzustufen. Ergänzt sei an dieser Stelle, dass die 1949 gegründete BCA Research und zu den weltweit führenden unabhängigen globalen Analyseinstituten zählt.
Selbst wenn man im Februar 2020 gewusst hätte, dass der S&P 500 später im Jahr ein Allzeithoch erreichen würde, hätten Anleger aus taktischen Gründen zunächst aggressiv auf Aktien setzen sollen. So geht es Berezin auch mit der Gegenwart. Die Google-Suchanfragen nach einem Atomkrieg schnellen in die Höhe (siehe Grafik). Das deutet darauf hin, dass die Anleger kurz vor einem Ausraster stehen, der aber eine gute Kaufgelegenheit für Anleger darstellen wird, so Berezin.
Entwicklung des weltweiten Google-Suchabfragen-Interesses am Stichwort Russland Atomwaffen
Zusammengefasst sollten nach Einschätzung des BCA-Strategen Aktienanleger in den nächsten 3 Monaten etwas vorsichtiger sein, auf Sicht von 12 Monaten optimistischer und auf längere Sicht von 2 bis 5 Jahren dann jedoch wieder vorsichtiger. Letzteres hat mit der Annahme zu tun, dass im Laufe der Zeit deutlich werden dürfte, dass der neutrale Nominalzins näher bei 3 % bis 4 % liegt als bei den 2 %, von denen der Markt derzeit ausgeht. Der säkulare Bullenmarkt bei Aktien wird dann wahrscheinlich zu Ende gehen, so sein Urteil.
Um auf Nummer sicher zu gehen, hat Berezin Anfang der Woche ein paar Flaschen Kaliumiodid (hochdosierte Jodtablette, die verhindern sollen, dass sich durch die Strahlung radioaktives Jod in der Schilddrüse sammelt) gekauft. Als er gestern wieder in der Apotheke nachschaute, waren alle Flaschen ausverkauft. Auf Amazon werden sie jetzt für das Zehnfache des regulären Preises angeboten. Eine Beobachtung, die auch an die Coronavirus-Pandemie erinnerte, als beispielsweise die Preise für FFP2-Masken in die Höhe schossen.